Aktuell Gemeindeleben

Am #Reformationstag ein Interview mit Margot Käßmann

Hilfe für Flüchtlinge gilt derzeit irgendwie als naiv. Das ärgert die Theologin Margot Käßmann. Und „unverantwortlich“ sei das Schüren von Ängsten, wie es derzeit von Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer zu hören sei. Vor Kanzlerin Angela Merkel dagegen hatte Käßmann noch „nie so hohen Respekt“.

heute.de:
Heute beginnt das neue Themenjahr in der Reformationsdekade unter dem Motto „Reformation und die eine Welt“. Wir erleben gerade, dass wir tatsächlich in einer Welt leben: Die Probleme der syrischen, eritreischen, albanischen Flüchtlinge sind auch unsere.

Margot Käßmann:
Das war natürlich immer so, aber wir haben nicht wahrhaben wollen, wie nah das Elend der Welt ist. Wir haben als Kirchen schon lange gesagt, die Flüchtlinge sind die Botschafter des weltweiten Elends.

heute.de:
Sind wir also selbst schuld an der Flüchtlingskrise, weil diese Völkerwanderung das Ergebnis jahrzehntelanger Ausbeutung und politischer Ignoranz ist?

Käßmann:
„Selbst schuld“ als Aussage ist schwierig, weil das viele nicht so empfinden. Aber wir müssen schon sagen, dass etwa die Rüstungsexporte in den Mittleren Osten gestiegen sind, im ersten Halbjahr dieses Jahres sogar exorbitant. Wir sind mitverantwortlich für die Kriege, ja wir verdienen an den Kriegen, vor denen die Menschen nun zu uns fliehen.

heute.de:
Haben die Kirchen zu leise gewarnt?

Käßmann:
Nach 1989 waren wir in Deutschland sehr mit uns selbst beschäftigt. Aus gutem Grund! In den 70er und 80er Jahren war die so genannte Dritte-Welt-Thematik viel präsenter. Also wie der Hunger bekämpft, wie Entwicklung gefördert werden kann. Dann war 25 Jahre lang das deutsch-deutsche Thema so im Mittelpunkt, dass wir fast vergessen haben, dass die Welt eine einzige ist. Ich dachte nach 1989 auch, jetzt wird alles besser: Die große Konfrontation USA-Russland wird abnehmen, wir werde es in einer so geeinten Welt schaffen, Hunger und Krieg zu besiegen. Dass das so bitter enttäuscht worden ist, hängt auch damit zusammen, dass wir zu blauäugig waren.

heute.de:
Und jetzt sind wir aufgewacht und ein Satz aus Ihrem jüngsten Buch, erst wenige Wochen alt, ist schon wieder überholt: „Politik ist geradezu langweilig geworden, weil es kaum noch wirklich kontroverse Debatten gibt.“

Käßmann:
Stimmt! Es ist ja schön, dass es die Kontroversen wieder gibt und die Menschen politisch diskutieren. Wir verhalten uns aber sehr anders als noch bei den ausländerfeindlichen Ausschreitungen von Lichtenhagen oder Hoyerswerda in den 90er Jahren. Viele Menschen sind viel weltoffener geworden. Ich lebe in Berlin, hier ist es selbstverständlich, dass die Menschen die verschiedensten Sprachen sprechen, die verschiedensten Hautfarben haben. Deutschland ist internationaler geworden.

heute.de:
Bayern offenbar nicht …

Käßmann:
Wie Herr Seehofer derzeit Ängste schürt, das ist für einen seriösen Politiker absolut unverantwortlich. Politiker haben eine Verantwortung für das friedliche Zusammenleben in einem Land. Und wenn Herr Seehofer von christlichen Werten spricht, dann muss ich sagen, dass in der Bibel Nächstenliebe nicht auf Menschen beschränkt ist, die meine Sprache sprechen oder meine Religion haben.

heute.de:
Er würde jetzt vermutlich sagen: Wir können aber nicht alle allein aufnehmen.

Käßmann:
Das ist das berühmte Sankt-Florians-Prinzip: Hauptsache die andere Hütte brennt und nicht meine. So ist das in der Bibel aber nicht gedacht. Der barmherzige Samariter ist überhaupt nicht zuständig für den Mann, der verletzt am Boden liegt. Aber er hilft ihm trotzdem und wird von Jesus als Vorbild deklariert.

heute.de:
Könnte die wirklich praktizierte Nächstenliebe gegenüber den Flüchtlingen so strapaziert werden, dass sie sich abnutzt und verloren geht?

Käßmann:
Ich finde, sie wird momentan wirklich schlecht geredet. Ich war gerade in Gießen zu einer Ideenmesse der Landeskirche dort. Gerade Kirchengemeinden stellen viel auf die Beine, um die Menschen aufzunehmen. Es gibt Deutschkurse in Gemeinderäumen, Kirchen werden geräumt, damit Kinder spiele können. Es gibt so viele tolle Sachen, die jetzt schlecht geredet werden, weil es heißt: Jetzt ist es aber zu viel. Ich habe den Eindruck, dass sehr viele – nicht alle – Menschen wissen: Wir haben genug, wir sind privilegiert in der Welt, jetzt sind wir dran zu geben. An keinem deutschen Mittagstisch wird gehungert werden, weil wir mit Flüchtlingen teilen.

heute.de:
Ärgert sie es, wenn die Ehrenamtlichen als naiv hingestellt werden?

Käßmann:
Das ärgert mich total! Gutmenschentum, Weltverbesserer, das wird immer so schlecht geredet. Allein in der evangelischen Kirche gibt es 1,2 Millionen ehrenamtlich Engagierte! Wenn wir die Welt nicht mehr verbessern wollen, ja was denn dann? Warum soll es naiv sein, Menschen zu integrieren? Deutschland hat doch schon Integrationsleistungen vollbracht, als zum Beispiel die ersten Italiener kamen. Daran kann ich mich als Kind und Jugendliche noch gut erinnern. So viele Zweifel gab es, ob das klappt. Heute spricht niemand mehr davon.

heute.de:
Wolfgang Schäuble kritisiert laut „Spiegel“ an der Kanzlerin zu wenig Rechtsstaat und zu viel Schwärmerei von den Chancen: „zu viel Käßmann und zu wenig Schily“.

Käßmann:
Ich hatte noch nie so hohen Respekt vor Angela Merkel wie jetzt, weil sie einen Standpunkt durchhält und nicht vor den ewigen Unkenrufen und Ängstlichkeiten, die erzeugt werden, weicht. Die anderen, die diese Klarheit schlecht reden, sollen doch selbst erst einmal eine Lösung anbieten. Was wollen wir denn machen? Eine Mauer bauen oder Schießbefehle?

heute.de:
Klingt nach Luther und Reformation.

Käßmann:
Diese Gesellschaft hat Reformbedarf, damit sie Veränderung nicht mit Angst begegnet. Veränderung muss sein, weil sie uns am Ende bereichern wird. Wir werden durch die Flüchtlinge eine veränderte, verjüngte, eine sehr viel unterschiedlichere Gesellschaft sein. Das heißt aber nicht, dass wir die Grundwerte der Freiheit aufgeben müssen. Zivilcourage ist gefrat. Und Ängste abbauen wäre eine notwendige Reform.

heute.de:
Und wie?

Käßmann:
Zum Beispiel sollten wir nicht ständig darüber streiten, wer richtig deutsch ist und wer nicht. Wir haben neulich zusammengesessen und der einzige gebürtige Berliner unter uns war ein Rechtsanwalt, dessen Eltern Armenier und aus der Türkei eingewandert sind. Dit is een Berlina.

Das Interview führte Kristina Hofmann.
Ein Interview von ZDF Heute :
http://m.heute.de/ZDF/zdfportal/xml/object/40729612

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